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Christian Geschle: In einer Nacht von Hameln nach Nottingham

Christian Geschle fällt auf. Seine Hände: tätowiert. Sein grauer Bart: reicht bis zum Brustbein. Sollen die anderen doch denken, was sie wollen. Er sagt, was er denkt und weiß, dass er damit aneckt. Hinter dem muskelbepackten Kunstwerk jedoch verbirgt sich ein gefühlvolles Ich, das zu seiner Familie hält. Warum wusste dann niemand, dass er Hameln nachts in Richtung England verließ?

Wie sich Christian Geschle selbst beschreiben würde? „Schwierig“, sagt er und atmet einmal tief durch. „Man muss mit meiner Ehrlichkeit umgehen können.“ Wenn er von seiner Ehrlichkeit spricht, meint er, dass er sagt, was er denkt. Und dass ihn dabei nicht interessiert, was andere über ihn denken. „Ist nicht so einfach mit mir“, sagt er und erzählt, wie er von der Hauptschule flog, wie er seinen Abschluss an der Berufsschule Lemgo nachholte und wie er als Holzmechaniker oder im Straßenbau arbeitete. Ist nicht so einfach mit ihm.

„Immer geraderaus“, das ist sein Motto. „Sei immer du selbst. Lass dich nicht verändern. Durch niemanden. Für niemanden.“ Er eckt an. Mit seinem grauen Bart, den er zwei Jahre züchten musste. Der ihn eigentlich nie stört; nicht beim Sport, nicht bei der Gluthitze, nur beim Essen manchmal. Mit seinen tätowierten Händen. Die ein Skelett zeigen, rechts mit Biomechanik, Zahnrädern und Schläuchen. Hinter den meisten Tattoos steckt eine Geschichte: Einige Tattoos handeln von den Trennungen von den Müttern seiner Söhne; die meisten von seinen Söhnen selbst. 12 Jahre ist sein ältester Sohn jetzt alt. Er kam auf die Welt, als Christian die Zeit in Nottingham hinter sich ließ. Von vorne.

Auf der Schnellstraße Richtung neues Leben

Als Christian 20 ist, lernt er eine Engländerin im Partyurlaub auf Ibiza kennen. „Wir haben uns geliebt“, erzählt er. Urlaub vorbei, zurück in die Heimat, er Hameln, sie Nottingham. Fernbeziehung. „Ich hatte nichts, was mich hier gehalten hat“, sagt Christian. Also los. „Sie und ihr Vater haben mich in einer Nacht abgeholt und wir sind weggefahren.“ Weg von Hameln, ab nach England – mit dem Auto des Vaters, auf der Schnellstraße Richtung neues Leben, Richtung Beeston in der Nähe von Nottingham.

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Der kleine Deutsche kann ganz gut kicken, komm mal zu uns.

Christian Geschle

Seine Freundin besorgt ihm einen Job an der Universität. Christian arbeitet eine Zeit lang für einen Caterer, später für eine Security-Firma. Und als Personenschützer. Ist nicht einfach mit ihm. Und er spielt Fußball. Das konnte er schon immer. „In England hat der Fußball einen ganz anderen Stellenwert“, sagt er. „Ich habe mich angeboten und mein Glück versucht.“ Also ab in die Sunday League. Jeder Pub stellt eine Mannschaft. In der Sunday League spielen sie gegeneinander. „Auch Spieler, die sonst höher spielten, waren dabei. Sie meinten: ‚Der kleine Deutsche kann ganz gut kicken, komm mal zu uns.‘“ So geht es nach oben, vierte Liga, Ilkeston Town, wo Geld fließt.

„Bad Bearded Beast“ steht auf dem Muskelshirt von Christian Geschle

„Ich hatte eine Wohnung, habe Geld verdient, hätte gut in England bleiben können“, erzählt Christian. Aber er kommt zurück. Nach viereinhalb Jahren. Für seine Eltern. „Mein Vater fand es überhaupt nicht toll, dass ich einfach abgehauen bin. Er hat wochenlang nicht mit mir geredet.“ Die Beziehung mit seiner Ibiza-Freundin: zerbrochen. Also wieder Deutschland, wieder Hameln, wieder Familie. „Ich denke oft zurück“, sagt er. „England war schön, ist nicht mit diesen Zwängen behaftet wie Deutschland. Da war es lockerer.“

Jetzt ist er 38 Jahre alt, hat zwei Söhne, beide von unterschiedlichen Frauen, beide wohnen teilweise bei ihm. „Sie kennen das nicht anders“, sagt Christian – und erzählt von diesem Nachmittag in der Fußgängerzone. „Ich habe ein Muskelshirt getragen und bin mit meinen beiden Jungs durch die Stadt gegangen. Zwei ältere Menschen sind uns entgegengekommen und haben laut gefragt: ‚Wie kann so einer zwei Kinder haben?‘ Da meinte mein Großer: ‚Passen Sie mal auf, was Sie da erzählen. Er ist der beste Papa der Welt‘“. Solange es seinen Kindern, seinen Eltern, seiner Freundin und ihm gut geht, ist er glücklich. Und wenn er trainieren kann, Gewichte stemmen – im Studio. Seit vier Jahren ist er Trainer und Servicekraft im Kingdom of Sports.

Ich bin nicht 08/15, ich bin ich.

Christian Geschle

Wenn Christian trainiert, trägt er am liebsten sein Shirt. Ein Freund aus der Grundschule, Tätowierer, hat es gestaltet. Über Facebook haben sie zueinander gefunden. „Bad Bearded Beast“, steht auf dem Shirt neben seiner Silhouette, mit Iro-Schnitt und Vollbart, der grau ist. Färben? „Geht bestimmt. Aber dann wäre es nicht mehr meiner. Ich bin nicht 08/15, ich bin ich“, sagt er. Im Winter steht er bei der Boxgala in Hameln im Ring. Das letzte Mal geboxt hat er vor 15 Jahren. Vor vier Operationen im rechten Knie. Vor der Rückkehr nach Deutschland. In einer Trainingshalle in Nottingham.

Fotos: Christian Manthey

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