Zelte stehen im Garten des Senior-Schläger-Hauses; Sandra Clemens-Wolf unterhält sich mit einem Mann, nimmt seine Kontaktdaten auf, zur Nachverfolgung. Eigentlich kann jeder, der auf der Straße lebt, anonym kommen, „aber es ist nicht wie früher“, sagt die Sozialarbeiterin. Corona hat auch hier sehr viel verändert. Sandra Clemens-Wolf kehrte mitten in der Krise aus ihrer Elternzeit zurück auf ihre Wunschstelle. „Randgruppen interessieren mich schon immer“, sagt die junge Mutter, die nach der Schule erst einmal eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin gemacht hat, obwohl sie schon merkte: „Das passt nicht zu mir.“
Schubladendenken ist nicht schlimm: Es ist nur wichtig, dass man die Schubladen umsortieren kann.
Sozialarbeiterin Sandra Clemens-Wolf
Aber, so hat sie es von Zuhause gelernt, bringe man das zuende, was man angefangen habe. Was folgte: eine Ausbildung als Erzieherin. „Hier hat es mir schon besser gefallen, aber das wollte ich ausbauen.“ Also ging sie nach Holzminden, studierte Soziale Arbeit an der HAWK, die, wie Sandra sagt, sehr viel Wert auf eine praktische Ausbildung legt. Für das Arbeiten mit Randgruppen werde man optimal vorbereitet. Nun ist sie bei der Wohnungslosenhilfe im Senior-Schläger-Haus tätig und „da, wo ich hingehöre“.
Sie unterhält sich mit einem Wohnungslosen auf der Straße; meist kennt sie ihre Vornamen – und ihre Geschichten, sehr interessante. „Ich werde jeden Tag überrascht.“ Ihr Bezirk ist die Hamelner Innenstadt. Wenn sie nicht im Tagestreff ist, besucht sie die Menschen auf der Straße. Zehn bis 15 trifft sie auf ihrer Tour meistens an. Da sind Menschen, die in den 70er Jahren ihre Wohnungen aufgegeben haben und reisen wollten – und das heute noch tun, auf ihre eigene Art ohne festen Wohnsitz. Natürlich gibt es auch tragische Schicksale; in jedem Fall, das weiß Sandra Clemens-Wolf ganz genau, sind die Geschichten nie gleich. Und somit könne man auch nicht alle in eine Schublade stecken. Schubladendenken an sich findet sie übrigens nicht schlimm: „Es ist nur wichtig, dass man die Schubladen umsortieren kann.“
Die Randgruppen sind es, die Sandras Job so lebendig, überhaupt nicht langweilig und eben dankbar machen.
Viele der Menschen, die sie täglich trifft, haben mit Vorurteilen zu kämpfen; Vermieter seien voreingenommen, überhaupt gebe es viel zu wenig bezahlbaren Wohnraum – ein großes Problem unserer Zeit, wie die Sozialarbeiterin findet. Dass es ihren Job in 20 Jahren nicht mehr gibt, weil keiner mehr auf der Straße leben muss? „Natürlich würde ich mir das für die Menschen wünschen, aber das ist utopisch. Dafür müsste sich die ganze Welt ändern.“ Randgruppen werden kritisch beäugt. Das ist so. Leider. Für Sandra sind es aber genau diese Randgruppen, die ihren Job so lebendig, überhaupt nicht langweilig und eben dankbar machen. Als junge Mutter mit zwei Kindern und zum Glück einem guten sozialen Netzwerk hat sie natürlich auch manchmal sehr anstrengende Zeiten; „aber am Ende des Tages, weiß ich, wofür ich es tue“.
Wenn ich anfangen würde, Ängste zu haben, könnte ich diese Arbeit nicht machen.
Sozialarbeiterin Sandra Clemens-Wolf
Natürlich frage sich die 35-Jährige manchmal, wie sie im Alltag alles unterbringen soll. Während sie privat Dinge gerne mal aufschiebt, kann sie das im Beruf gut kompensieren. Probleme müssen hier gleich gelöst werden. Etwas, das sie überhaupt nicht begleitet bei ihrem Job auf der Straße: Angst. „Wenn ich anfangen würde, Ängste zu haben, könnte ich diese Arbeit nicht machen.“ Jetzt hofft sie, dass die noch vorhandenen Ängste, die – und das ist bei vielen derzeit so – während der Pandemie auch bei den Menschen auf der Straße zugenommen haben, schnell wieder verschwinden, die Situation bald vorbei ist. Zugute kommt Sandra dabei wieder eine positive Eigenschaft: Geduld. Die hat sie. Privat, bei ihrer Arbeit und auch in der Pandemie.
Foto: Chris Kursikowski